Joachim Kaiser und seine Benny Goodman-Kritik von 1959
Es war eine der traurigen Nachrichten im Mai: Joachim Kaiser ist gestorben. Ja, der Musikkritiker. Der Prototyp: seine Autorität beruhte auf seiner immensen Bildung, dazu kam seine tiefe Liebe zu allem, was man so „Kultur“ nennt – also Theater, Oper, Musik. Letztere war meist in ihrer „klassischen“ Ausprägung Thema für ihn – aber neben seinem Nachruf veröffentlichte die Süddeutsche (deren Feuilleton-Chef er lange war) seine Kritik von einem Benny Goodman-Konzert im Deutschen Museum in München 1959.
Sein Text beginnt zeitlos: „Jazzfans können demjenigen, der keiner ist, schon Angst einjagen. Aber nicht etwa, weil man um das Mobiliar bangt, das bei solchen Veranstaltungen erfahrungsgemäß einer gewissen Gefährdung unterworfen ist. […] Einschüchternd wirkt vielmehr die Kennerschaft.“
Ja, den fachidiotischen Fanatismus von Jazzfans hatte damals auch Adorno schon erwähnt: als Beleg dafür, dass es in diesem Segment der Unterhaltungsindustrie wohl doch nicht um Freiheit, Kommunikation oder eine bessere Welt gehen könne. Alles bekannt und schon gehabt also (obwohl: ist es heute so viel anders)?
Kaiser schreibt weiter, 1959: „Fanatiker sind Puristen. darum war ich nicht überrascht, als ein kenntnisreicher Fan mich wissen ließ, daß über unpassende Be-Bop-Phrasen, die beispielsweise in Dixieland-Ensembles störend auftauchten, schon Jazz-Lebensfreundschaften zerbrochen seien“.
Ok. jaja. Aber jetzt kommt der interessante Satz: „Benny Goodman kennt solche Skrupel anscheinend nicht.“
Dann erklärt Kaiser einserseits, wie altbacken die 32-tel aus der Swingklarinette des Meisters Goodman perlen, andererseits aber auch der WestCoast-Pianist Russ Freeman dabei ist, der „durchaus moderne Töne ins Ensemble bringt“.
Das lässt schon 1959 die Jazz-Fanatiker, die eben quasi noch in der Warteschlange interviewt wurden, schlecht aussehen: „Schaut mal, selbst Benny Goodman spielt mit den Modernen zusammen!“
Ganz so schlimm scheint es aber auch 1959 schon nicht gewesen zu sein, die Fans – vulgo: Fanatiker – trugen den Stilmix offenbar mit Fassung: „Die Münchner Zuhörer waren auffallend brav. es wurde nie protestiert, sondern immer zuvorkommend geklatscht, gelungene Soli erhielten Beifall, zu Exzessen irgendwelcher Art kam es nicht.“
Ende des Berichtes, der Kritik. Gut erkennen kann man hier Joachim Kaisers eigene Kunst als Schreiber: er greift ein bekanntes Vorurteil zum Jazz (und seinem Publikum) auf – den fanatischen Purismus – und stellt das mit starken Bildern dar (Dixie, Bebop, Freundschaften zerbrechen).
Als Leser ist man gleich dabei, bildet sich seine eigene Meinung über diese Fanatiker. Dann: Goodman, der eigentlich was für die Puristen sein müsste, er ist schließlich die Galionsfigur des Swing! Er darf aber auch cooler sein als (vermeintlich) sein Publikum.
Und am Ende stellt sich raus: die Aufreger-Kulisse vom Anfang des Textes geht nicht auf. Die Fans protestieren gar nicht. Sondern klatschen brav. 1959 ist also schon die Luft raus ?
Naja: 1938 spielte Benny Goodman mit seinem Orchestra in der Carnegie Hall (das Jubiläum steht bevor!) – 1959 in München war also zumindest sein Jazz kein Subkultureller Hit mehr – sondern schon jahrzehntelang anerkannte Kunst/Unterhaltungsmusik. Der Jazz-Mainstream damals: Cool Jazz, mit seiner Renaissance französisch-impressionistischer Harmonik. So pastell, dass Ornette Colemans Kollektivimprovisation im folgenden Jahr unter dem legendären Titel „Free Jazz“ verkauft wird!
Ich wage zu behaupten: die Besucher des Goodman-Konzertes 1959 waren eben schon in den späteren Jahrzehnten ihrer jeweiligen Fan-Laufbahnen angelangt. Und konnten wohl auch die Tickets bezahlen.
Die Jazzfans aber, die (noch) für was brannten – die waren in anderen Konzerten zu finden. Und ich fürchte, die waren auch derbe puristisch drauf.
however – das schmälert keineswegs den Spaß beim Lesen von Joachim Kaisers Text. Es ist schade, dass er keinen mehr schreiben wird.